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Mieczyslaw Wiecheć - ein Mahnmal als Gedenkort

„In Ebersbach wird am 20. Januar 1943 ein junger polnischer Landarbeiter wegen angeblicher unsittlicher Berührung einer Bauerntochter und trotz Intervention des Bürgermeisters durch den Strang hingerichtet.“[1]

Nur 300 Meter sind es heute vom Parkplatz am Kompostierplatz in Bünzwangen von der Stelle, an der welcher 1943 ein junger Mann erhängt wurde. Ein langer Weg war es aber, bis an dieser Stelle ein Mahnmal gegen das Vergessen des NS-Terrors errichtet wurde.

Ein Geflecht aus zwischenmenschlichen Beziehungen und Intrigen und weitere nicht mehr mit Exaktheit zu ermittelnde Vorkommnisse werden heute als Ursachen für die schicksalhafte Denunziation eines jungen Mannes angesehen, von dessen letztem Lebensabschnitt hier berichtet wird. Er wurde im Herbst 1942 in Sulpach durch die Gendarmerie verhaftet und im Konzentrationslager Welzheim interniert. Was er dort erlebt hatte ist unbekannt. Am Morgen des 20. Januar 1943 wurde er am Sulpacher Waldrand durch die Gestapo hingerichtet.[2]

In fast allen Städten und Gemeinden Deutschlands arbeiteten oder wohnten Zwangsarbeiter während der NS-Zeit. Allein für die Region Stuttgart waren nach aktuellen Schätzungen über 60.000 Männer und Frauen betroffen. Das Einzelschicksal, das hier ausführlich geschildert wird, zeigt welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der nationalsozialistischen Herrschaft an dieser Minderheit begangen wurden.

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs und dessen weiteren Verlaufs entstand im Deutschen Reich aufgrund des Kriegsdienstes der wehrtüchtigen Männer ein akuter Arbeitskräftemangel, sowohl in der Industrie, als auch in der Landwirtschaft. Der Einsatz von Zwangsarbeitern war die Lösung und wurde vom NS-Regime als politisches und wirtschaftliches Mittel der Machtsicherung eingesetzt. An der Organisation der Zwangsarbeit waren Polizei, SS, Wehrmacht, die Arbeitsämter und andere zivile Behörden beteiligt. Schon vor Kriegsausbruch hatte das Regime mit der Dienstverpflichtung und den Arbeitseinsatz die Deutschen an die staatliche Fremdbestimmung des Einzelnen zu gewöhnen begonnen. Die Arbeitspflicht galt ab 1935 für alle männlichen Deutschen zwischen 18 und 25 Jahren und verschärfte sich fortan. Nach Bildung des Generalgouvernements im besetzten Polen wurde die Zwangsarbeit dort am 26.10.1939 für jüdische Polen verhängt. Nach anfänglichen Anwerbeversuchen für den „Reichseinsatz“ im Westen, artete dies ab 1940 zu regelrechten Menschenjagden aus. Über 1 Mio. Polen mussten ab Sommer 1940 im Deutschen Reich arbeiten. Sie unterlagen einem Sonderstrafrecht und mussten zur Kennzeichnung ein „P“-Abzeichen auf der rechten Brustseite ihrer Kleidung tragen. Freizügigkeit und Bewegungsfreiheit waren aufgehoben, soziale und sexuelle Kontakte zu Deutschen standen unter Strafe.[3] Neben dem Arbeitskräfteeinsatz in der Industrie, in privaten und öffentlichen Firmen, war Sklavenarbeit auch in der Landwirtschaft zu leisten.

Überall war die Situation eine ähnliche, auch hier im unteren Filstal mussten viele Zwangsarbeiter die Lücke schließen, die durch den Kriegsdienst der einheimischen männlichen Bevölkerung entstanden war. Die Menschen in den landwirtschaftlich geprägten Teilorten, spürten diesen Arbeitskräftemangel besonders deutlich. Die Arbeit auf dem Feld und im Stall verlangte schwere körperliche Arbeit, jedoch waren viele Jungbauern und Knechte im Kriegseinsatz. Die Arbeit musste von den Zurückgebliebenen so gut wie möglich erledigt werden. Auch in Sulpach wurde der Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft spürbar und durch Zwangsarbeiter aufgefüllt. Hatten diese Glück, dann wurden sie wie Knecht und Magd im Haushalt integriert, weshalb ihre Verpflegung besser war, als die ihrer Leidensgenossen in der Industrie.

Bei Familie S. war der ledige Jungbauer als Soldat im Feld. Seine verwitwete Mutter war 1940 mit 66 Jahren nicht mehr sehr belastbar, weshalb die beiden noch ledigen Schwestern den Hauptteil der anfallenden Arbeit erledigen mussten. Zunächst wurde dem Hof im März 1940 ein polnischer Zivilarbeiter zur Mitarbeit in der Landwirtschaft zugewiesen, mit dem die Familie sehr gut auskam und den die Bäuerinnen im Schriftverkehr mit den Behörden als fleißig und anständig schilderten. Dieser begann nach Berichten von Zeitzeugen jedoch eine Freundschaft zu einer Polin, die in der Mühle in Ebersbach arbeitete. Sie lebte mit ihrem acht Jahre alten Sohn im Haus neben der Mühle. Beim verbotenen Besuch in Ebersbach wurde dieser Landarbeiter, von der Gendarmerie gestellt und von Polizeimeister S. heftig geschlagen, nach Augenzeugenberichten sogar „fast tot geprügelt“. In einer Nacht- und Nebelaktion wurde er dann gegen Mieczyslaw Wiecheć[4], der damals im Göppinger Stadthof in Ursenwang arbeitete, ausgetauscht. Wer letztlich die Drahtzieher dieses Austausches waren, konnte nicht restlos geklärt werden. Auch die Polin kam mit ihrem acht Jahre alten Sohn von der Mühle weg und wurde einem Bauern in Sulpach zugeteilt. Der damals einundzwanzigjährige Mieczyslaw war nach Aussagen vieler Zeitzeugen umgänglich, musikalisch, intelligent und beherrschte mehrere Sprachen[5], so auch Deutsch. Einige Nachbarsjungen unterhielten sich in den Sommermonaten daher abends gern mit ihm und nannten ihn „Mietek“. Bereits am ersten Tag wurde er in örtliche Streitereien hineingezogen, denn die Bauernfamilie wollte die Farrenhaltung vorzeitig kündigen. Mieczyslaw musste den Stier vor dem Haus des Ortsbauernführers W. anbinden, wo dieses Tier dann den ganzen Tag stand. Mit dem Hinweis auf Vertragsbruch nahm die Bauernfamilie den Bullen am Abend jedoch wieder zurück. Erst als im Mai des darauf folgenden Jahres der Vertrag auslief, wurde die Familie von der Bullenhaltung befreit[6]. Gegenüber den Behörden erhob die Familie Vorwürfe, man wolle sie von verschiedenen Seiten unterdrücken.

Anfänglich war Mieczyslaw in der Bauernfamilie integriert. Sonntags musste er wie alle anderen Ostarbeiter morgens zum Appell zur Gendarmerie ins Rathaus. Dort wurde den Anwesenden die gesetzlichen Bestimmungen von den Landjägern eingebläut, wobei die Angetretenen oft misshandelt wurden. Im Oktober 1941 wurde die Bauernwitwe aufs Ebersbacher Rathaus zu einer Aussprache gebeten – der Bürgermeister war vom Führer des Ebersbacher Arbeitskommandos in Kenntnis gesetzt worden, dass: „Unstimmigkeiten zwischen dem Zivilpolen und dem französischen Kriegsgefangenen bestehen. [...] Vom Lager ist daher die Trennung der beiden beantragt“. Neben Miecyslaw war im Herbst 1941 also noch ein französischer Kriegsgefangener zur Arbeit auf dem Hof eingesetzt gewesen. Nach einer Aktennotiz des Bürgermeisters wurde der Franzose am 31. Oktober 1941 vom Hof abgerufen[7]. Im Februar 1942 forderte die Bauernwitwe beim Arbeitsamt Göppingen die Wiederbeschäftigung des im Vorjahr entfernten französischen Kriegsgefangenen. Von der Gemeindeverwaltung wurde dieser Antrag nicht direkt unterstützt, sondern eine andere Hilfskraft empfohlen, da der Franzose bei einem anderen Bauern unentbehrlich wäre. Die Familie bekam jedoch keine weitere Hilfskraft zugewiesen, daher wandte sich im März 1942 die ältere der beiden Bauerntöchter an die Kreisbauernschaft, dass der Betrieb mit 40 Morgen sehr schwer sei und sie den „minderwertigen“ Polen nicht brauchen könne, sie „immer wieder ein Unterdrücktwerden von verschiedener Seite“ spüre und sie wolle den ersten polnischen Arbeiter zurückhaben[8]. Anscheinend konnte Mieczyslaw die hohen Erwartungen nicht erfüllten, die man an ihn stellte: man wünschte wohl sich eine Arbeitskraft, die wie der Bauer, den Hof selbstständig zu führen im Stande war - welche Illusion. Die emotionsgeladene Stimmung und willkürliche Ortsverwaltung endeten in der anonymen Denunzierung von Mieczyslaw. Ihm wurde einerseits vorgeworfen, die Bauersleute bedroht zu haben, anderseits wurde von ihm behauptet, sich den Töchtern des Hauses unsittlich genähert zu haben. Dies war ausreichend, um ihn vom Hof wegzuholen.

Die Gendarmerie sperrte ihn zunächst einige Tage in den Ebersbacher Ortsarrest ein, danach wurde er zur Gestapo nach Stuttgart gebracht. Von hier aus verschleppte man ihn nach Welzheim ins Konzentrationslager, bis er am Morgen des 20. Januar 1943 zurück nach Ebersbach gebracht wurde. „Kahl geschoren und verängstigt“, wurde er in gestreifter Sträflingskleidung zusammen mit zwei anderen Häftlingen auf einem Lieferwagen mit Plane ins Filstal geschafft – auf der Ladefläche des LKW befand sich ein Galgen. Zwei Tage zuvor erhielt der Ebersbacher Bürgermeister Seebich bereits ein Schreiben des württembergischen Gestapo Chefs Mussgay aus Stuttgart in dem mitgeteilt wurde:

„Betreff Exekution des Polen W i e c h e c, Mieczyslaw, led. Arb [...]

Auf Befehl des Reichsführer SS wird der Pole Wiechec am Mittwoch, den 20. Januar 1943, um 9.00 Uhr, bei Sulpach, Krs. Göppingen erhängt [...]“

Als Grund für die Hinrichtung gab der Gestapochef mehrmalige sexueller Belästigung der beiden Bauerntöchter an, die im Haus lebten, wo er zuvor gearbeitet hatte. Die Teilnahme an der Exekution wurde dem Bürgermeister „anheim gestellt“. Bürgermeister Seebich wohnte der Vollstreckung nicht bei. Ein Gestapovertreter äußerte im Beisein des Polizeimeisters W., dass die Weigerung der Teilnahme des Bürgermeisters „ein auffälliges Verhalten“ wäre. Auf Befehl der Gestapo hatten alle polnischen Zwangsarbeiter über 18 Jahren an diesem Tag um 7.30 Uhr vor dem Rathaus zu erscheinen. In Dreierreihen mussten sie zum Waldrand bei Sulpach marschieren. Sie sollten dort zur Abschreckung und Demütigung Zeugen der Hinrichtung werden. Weitere Anwesende waren Mitglieder der Gestapo Stuttgart, SS-Leute, die örtliche NSDAP-Führung und die Gendarmerie. Nach Augenzeugenberichten gelang es Mieczyslaw zunächst in den Wald zu flüchten. Nach einer halbstündigen Hetzjagd hatte man ihn jedoch gefasst. Vor der Hinrichtung wurde ihm noch eine Zigarette gereicht[9]. Ein Gestapo-Mann stieß schließlich den Stuhl auf dem er stand unter ihm weg. Drei polnische Landsleute mussten den Toten vom Galgen abnehmen und in eine Holzkiste legen.[10]

In einem Schreiben vom gleichen Tag wurde dem Standesamt Ebersbach von der Geheimen Staatspolizei in Stuttgart die Nachricht vom Tod des Wiecheć übermittelt: „[...] ist am 20. Januar 1943, vormittags 9.25 Uhr, auf Markung Ebersbach/Fils gestorben.“ Unregelmäßigkeiten im Schriftstück deuten darauf hin, dass alles vorgefertigt war, genaues Datum, sowie Uhrzeit wurden nachträglich maschinenschriftlich eingefügt, die Uhrzeit des Todes sogar handschriftlich. Dem Bürgermeister wurde in diesem Schreiben weiterhin mitgeteilt, dass der Leichnam der Anatomie der Universitätsklinik Tübingen zur Verfügung gestellt wurde. Die leiblichen Überreste wurden später auf dem Tübinger Stadtfriedhof verscharrt. Sein Name findet sich heute auf einer Grabplatte des Gräberfelds X, einer Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus - allerdings ist sein Namen falsch geschrieben („Nieczyslaw Wieck“ bzw. „Nieczyslaw Wiecheo“).

Auf Anweisung der Gestapo vom 06. Februar 1943 wurde Bürgermeister Seebich veranlasst, den spärlichen persönlichen Nachlass des Erhängten an die polnischen Landarbeiter zu verteilen. Der Ortsbehörde wurde hierbei untersagt dessen Angehörige in Polen zu verständigen. Der örtliche Gendarmeriemeister S. verkaufte den Nachlass: zwei Koffer mit Wäsche und Kleidung, ein Sack mit alten Kleidern und Schuhen, eine Mandoline, sowie eine Ledermappe. Der Erlös des Verkaufs betrug 22,20 Reichsmark und wurde zur Begleichung der anlässlich der Hinrichtung entstanden Unkosten von 8,20 Reichsmark verwendet[11], aus heutiger Sicht ein grotesker Vorgang. Der verbliebene Rest wurde an das Winterhilfswerk gespendet.

Uwe Geiger
Stadtarchiv Ebersbach, 2007

[1] Gustav Seebich, in: „Der Kreis Göppingen“, Stuttgart 1973, S. 111 ff

[2] Vor etwas mehr als zwanzig Jahren wurde zum ersten Mal über den Fall des Mieczyslaw Wiecheć in Ebersbach berichtet. Besonderen Dank für die Recherchen gilt hier dem damaligen Leiter des Museums im Aufbau Herrn Jochen Bender, M.A. und dem langjährigen Museums- und Stadtarchivleiter Dr. Eberhard Haussmann †.

[3] Gruner, Wolfgang, in: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Zwangsarbeit, dtv München, 3. Auflage 1998

[4] Wiecheć spricht man „Wiechetsch“ aus. Mieczyslaw Wiecheć wurde am 01. Nov.1919 in Mogilany, Kreis Krakau, in Polen geboren. Er war katholisch, ledig und hatte nachweislich einen Bruder und eine Schwester. Die Umstände seiner Entführung und des Transports in den Westen sind bislang unbekannt.

[5] „las auch englische und französische Bücher“, in: „Spätes Gedenken an hingerichteten Polen“, NWZ-Bericht vom 26.05.1999; Zeitzeugenbericht vom 23.06.1989 des Herrn S. (Augenzeuge bei der Hinrichtung)

[6] EB 62, Gemeindratsprotokoll 22. Mai 1942, S. 617

[7] Der Kriegsgefangene Raoul H. hatte die Gefangenennummer 18 204.

[8] Stadtarchiv Ebersbach Flattich 4310

[9] Zeitzeugenbericht des Herrn N. vom 01.08.1998

[10] Altwasser, Heinz-Ulrich: Mieczyslaw Wiecheć. Das Schicksal eines polnischen Zwangsarbeiters. In: Unterwegs, Heft 9

[11] Für die Vorarbeiten der Aufstellung des Galgens wurde laut einer Kostenaufstellung von der Sulpacher Teil-Ortsverwaltung eine Rechnung von 8,20 RM an die Ebersbacher Gemeindeverwaltung erstellt. Das Galgenloch musste von einem jugoslawischen Zwangsarbeiter ausgehoben werden. Der Galgen selbst wurde mittels aufgehäufter große Steine gehalten.

Ein Mahnmal als Gedenkort

Auf Privatinitiative von Herrn Albert Schäfer und Herrn Ludwig Neber wurde bereits 1999 die Erstellung eines Mahnmals an der Stelle geplant, an der am 20. Januar 1943 der junge Pole durch den Strang ermordet wurde. Am Samstag, den 20. Januar 2007 konnte dieses Mahnmal in einer Feierstunde eingeweiht werden, bei der über 70 Bürger teilnahmen. Im April 2007, also kurze Zeit nach der Einweihung wurde das Mahnmal geschändet und die Gedenk-Tafel gestohlen. Wenige Wochen später kam es erneut zu einer Schändung, wobei der Wortlaut des Tafeltextes in absurder Weise verfälscht wurde[12]. Unbekannte haben seither immer wieder das Mahnmal beschädigt und geschändet. Die Stadt Ebersbach erstattete jeweils Strafanzeige und die Beschädigungen am Mahnmal wurden beseitigt.

Seit Sommer 2007 sind Hinweistafeln am Weg angebracht, die die Besucher vom Waldparkplatz nahe des Kompostplatzes an der Kreisstraße nach Schlierbach zum Mahnmal führen.

Abb. 2: Mahnmal am Waldrand von Sulpach, Aufnahme 17.09.2007 (Bild: Stadtarchiv Ebersbach)

[12] Berichte in der NWZ: Mo. 07.04.2007 und 19.04.2007

Gedanken zum Mahnmal

"Im Rahmen meines sozialwissenschaftlichen Studiums durfte ich im Archiv der Stadt Ebersbach vom 21.02 – 20.03 2012 ein Praktikum absolvieren und beschäftigte mich dabei mit den Umständen, die zur Erhängung Mieczyslaw Wiechećs geführt haben könnten. Oft wurde ich während dieser Zeit von Bekannten gefragt: Was hat denn Sozialwissenschaft mit Geschichte zu tun? Meiner Meinung nach sehr viel. Die Sozialwissenschaft befasst sich unter anderem damit, gesellschaftliche Handlungsweisen in einem größeren Zusammenhang zu betrachten. Damit ist sie nicht sehr weit von der Geschichtswissenschaft entfernt und beide Disziplinen eint die Wissbegierde. Im Fall Mieczyslaw Wiechećs sind die Fragen nach dem ‚Wer?’ – also nach den beteiligen Personen – bereits sehr gut erforscht. Was für mich vor dem Hintergrund meiner Fachdisziplin nun interessant war, war dagegen die Frage nach dem ‚Wie?’ – die Frage nach dem Zusammenspiel der Strukturen, Umstände und Verhältnisse innerhalb eines sehr kleinen, dörflichen Rahmens. Dabei zeigte sich, dass die Dinge oft vielschichtiger sind, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Hier lässt sich nun gedanklich wiederum eine Parallele ziehen und zwar zur Frage nach dem Bezug der damals geschehenen Vorkommnisse zu unserer heutigen Gegenwart. Hat das damals Geschehene für uns heute überhaupt noch Relevanz? Versuchen wir’s mal mit Kästner:

„An jedem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern“[1]. Mit diesem Satz lässt Kästner in dem Buch „Das fliegende Klassenzimmer“ ein Diktat an eine Gruppe Schüler beginnen. Das Buch stammt aus dem Jahr 1933, dem Beginn einer Zeit, die die allermeisten von uns nur als Unterrichtsstoff kennen. Das sogenannte ‚Dritte Reich’ scheint heute manchmal weit weg, seit Kriegsende sind schließlich 67 Jahre vergangen. Das umfasst beinahe die Spanne eines Menschenlebens. Zwei – wenn nicht gar drei – Generationen sind seither herangewachsen. Mit dem Verhindern ist das so eine Sache: Es beginnt mit dem Widersprechen und das wiederum lässt sich leicht einfordern – im Nachhinein. Aus den Freiheiten der Demokratie heraus das Verhalten von Menschen innerhalb einer Diktatur zu beurteilen wirft gewisse Schwierigkeiten auf. Dennoch: über alle Zeitgrenzen hinweg bleibt etwas, das verbindet. Es ist das Gefühl, das sich einstellt, wenn 67 Jahre nach Kriegsende die Schrecken dieses Krieges in Dokumentationen über die Fernsehbildschirme flimmern. Wenn Kinofilme Geschichten erzählen, die vom Schicksal Einzelner handeln und die gerade wegen der Individualität dieses Einzelnen umso mehr berühren. Die monströse Zahl der Opfer der NS-Zeit bekommt so ein Gesicht. In Ebersbach ist es das Gesicht Mieczyslaw Wiechećs. Es repräsentiert die Vielzahl derer, die Ähnliches erfahren haben unter der Herrschaft der Nationalsozialisten in Europa. Heute steht für diesen einen Menschen am Ort seines gewaltsamen Todes ein Mahnmal. Es soll an ein geraubtes Leben erinnern und damit ist nicht nur die Würdigung Mieczyslaw Wiechećs verbunden, sondern auch die Aufforderung zu einem Denkprozess. Hier kommt das Widersprechen wieder ins Spiel. Die Freiheiten des Friedens, den wir erleben, ermöglichen es uns heute, Ungerechtigkeiten entgegenzutreten. Keine vorgegebene Einheitsmeinung zwingt uns, den Kopf unten zu halten. Widersprechen heißt, dass man etwas zu sagen hat – auch und gerade im Alltag. Die NS-Zeit auf dem Land zeigt, von heute aus betrachtet, verschiedene Facetten des ‚Alltags’: Sie beinhaltet die Alltäglichkeit des Zwangsarbeitersystems ebenso wie das Widersprechen Einzelner gegen Misshandlungen ‚ihrer’ Zwangsarbeiter. Dennoch bleibt als Bilanz, dass eine freie und eigene Meinung zu vertreten nicht möglich war – für manche eingesessenen Bewohner des Ortes nicht und für die geraubten und verschleppten Zwangsarbeiter schon gar nicht. Die eigene Meinung vertreten zu dürfen, ist ein hohes Gut. Wo es ausbleibt, bleiben auch die Ungerechtigkeiten des Alltags bestehen."

Shalini Spätling,

Ebersbach/Fils, 20. 06. 2012


[1] Kästner, Erich. (1990). Das Fliegende Klassenzimmer. 147. Auflage. Hamburg : Cecilie Dressler Verlag. S. 95.