In memoriam Alexis Boscherie (1905-1989)
Ein Beitrag zum Kriegsende vor 60 JahrenIm Juli 1940 kamen die ersten französischen Kriegsgefangenen vom Stammlager in Ludwigsburg (Stalag VA) zum Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft und in der Industrie nach Ebersbach. Auf einem Teil des Geländes des einstigen Reichsarbeitsdienstlagers in der Marktstraße wurde von der Gemeinde ein Lager für das französische Arbeitskommando eingerichtet, das – anders als das später hinzugekommene Lager für die sowjetischen Kriegsgefangenen oder die Sammelunterkünfte für die Zwangsarbeiter aus aller Herren Länder – direkt von Bürgermeister Gustav Seebich verwaltet wurde, welcher die ersten Kriegsgefangenen noch persönlich an der Bahn abholte.
Am 3. Februar 1942 wurde dem Ebersbacher Arbeitskommando vom Stammlager in Ludwigsburg ein kriegsgefangener Priester namens Alexis Boscherie zugeteilt. Der 37jährige Franzose hatte den Status eines Offiziers und durfte folglich auf keinen Arbeitsplatz eingewiesen werden. Für Unterkunft und Verpflegung des Seelsorgers, welchem monatlich 10 Mark auszuzahlen waren, konnte Seebich als Lagerverwalter dem Stammlager Ludwigsburg zusätzlich 1,40 Mark pro Tag in Rechnung stellen.
Nicht viele der reichsweit zuletzt über 80.000 französischen Arbeitskommandos hatten wie das Ebersbacher Kommando einen eigenen Seelsorger vor Ort. Tatsächlich kamen nur etwa 3000 französische Priester in Kriegsgefangenschaft. Nur ungefähr 1000 davon waren Feldgeistliche gewesen und wurden wie Offiziere behandelt. Diese saßen anfangs überwiegend in den Offizierslagern (Oflags). Auf französischen Wunsch kam es dann teilweise zu einer Umverteilung des kriegsgefangenen Klerus aus den Oflags heraus in die unterbesetzten anderen Lager. Doch während ein Transfer in die Stalags noch relativ problemlos erfolgte, blieb die Verwendung von Priester-Offizieren in den Arbeitskommandos bis zum Kriegsende eine große Ausnahme, da man diese Geistlichen dort nicht als Arbeitskräfte einsetzen durfte.
Die anderen 2000 Seelsorger waren als einfache Soldaten in Gefangenschaft geraten. Dementsprechend wurden sie wie gewöhnliche Kriegsgefangene behandelt und nicht vom Arbeitseinsatz freigestellt. Diese Priester-Soldaten konnten sich, wenn man sie denn gewähren ließ, nur in ihrer knapp bemessenen freien Zeit um die Seelsorge kümmern. In einigen Arbeitskommandos ohne professionelle Geistliche versuchten zudem Laienprediger die vorhandenen Lücken zu schließen.
Als Konsequenz aus dem allgemeinen Seelsorgermangel betreuten die einem bestimmten Arbeitskommando zugewiesenen Priester meist nicht nicht nur dasselbe, sondern auch die in der Umgebung liegenden benachbarten Kommandos. Dennoch blieben viele Arbeitskommandos gänzlich unbetreut. Der genaue Wirkungskreis des in Ebersbach stationierten Lagerpfarrers Alexis Boscherie ist gegenwärtig noch nicht bekannt. Sicher ist, daß er neben dem Ebersbacher Arbeitskommando, welches auch die Nachbargemeinde Bünzwangen mit Arbeitskräften versorgte, zumindest noch das Kommando in Roßwälden betreute, welchem auch die im angrenzenden Weiler arbeitenden französischen Kriegsgefangenen angehörten. Nachdem Gustav Seebich 1943 zum kommissarischen Bürgermeister von Roßwälden berufen worden war, gelangte das dortige Arbeitskommando übrigens ebenfalls in seinen Einflußbereich, woraufhin er sofort ein neues Lager für dasselbe einrichtete, da das alte in seinen Augen nicht allen Anforderungen gerecht wurde.
Alexis Boscherie war nicht nur von jeglichem Arbeitseinsatz freigestellt, er konnte sich auch außerhalb des Ebersbacher Lagers völlig ungehindert bewegen. Wie sich einer seiner Mitgefangenen erinnert, ging er viel spazieren. Dabei besuchte er immer wieder die in der Landwirtschaft arbeitenden Kameraden in den Teilorten und Nachbardörfern, die häufig bei ihren Arbeitgebern untergebracht waren und nur sonntags in ihre Lager zurückkamen. Fast immer brachte er von seinen Ausflügen etwas mit – seien es Waldpilze, Schnecken oder zu Salaten geeignete Wildpflanzen –, um den Speiseplan seiner Mitgefangenen ein wenig aufzubessern.
Als Priester widmete er sich in Ebersbach nicht nur Gottesdiensten und der Seelsorge, sondern hatte auch zwei seiner kriegsgefangenen Landsleute zu bestatten. Einer davon war – offenbar angetrunken – im November 1943 in der seichten Fils ertrunken, der andere hatte sich im Februar 1944 vor einen Zug geworfen. Eine Zeitlang bekleidete Alexis Boscherie auch das Amt des gewählten Vertrauensmanns des Ebersbacher Arbeitskommandos und vertrat die Interessen seiner Kameraden gegenüber der Lagerleitung. Als Seelsorger – mit im Vergleich zu seinen Mitgefangenen sehr viel Freizeit – setzte er sich gleichfalls immer wieder für das Wohl seiner Kameraden ein. Einer seiner wichtigsten Ansprechpartner war Bürgermeister Gustav Seebich, bei dem er jederzeit ein offenes Ohr fand. Tatsächlich fühlte sich Gustav Seebich nach eigenem Bekenntnis dem Lagerpfarrer der Franzosen im Laufe der Zeit eng verbunden. Sein Vertrauen in ihn ging so weit, daß er ihn kurz vor Kriegsende mit einer wichtigen Aufgabe betraute: Er schickte den Priester als Unterhändler zur ersten Kontaktaufnahme mit dem Feind.
Spätestens mit dem Beginn des Monats April 1945 setzte in Ebersbach das Warten auf die Ankunft feindlicher Truppen ein. Verstärkte Jagdbomber-Aktivität und reger Verkehr auf der Hauptstraße – Flüchtlinge, Soldaten, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter – kündigten den unaufhaltsam näherrückenden Feind an. Die örtliche NSDAP räumte vorsichtshalber bereits am 3. April ihre Geschäftsräume, und die Einwohner begannen zum Teil Nahrungsmittel auf Vorrat zu kaufen. Zwei Züge wurden auf Ebersbacher Gemarkung von Jagdbombern abgeschossen. Am 14. April wurden Bomben angeliefert, um damit vor Übernahme des Ortes durch den Feind sowohl die Filsbrücke in Ebersbach als auch die Eisenbahnüberführung zwischen Ebersbach und Reichenbach zu sprengen.
Im Verlauf des 19. April drangen amerikanische Einheiten vom Remstal kommend überraschend schnell in den Kreis Göppingen ein. Am Abend erreichten sie bei Faurndau das Filstal, und in der Nacht zum 20. April wurde Uhingen eingenommen. Noch am selben Tag rückten die Amerikaner über Albershausen, Schlierbach und Roßwälden bis nach Kirchheim vor. Ebersbach wurde zunächst seitlich liegengelassen. Erst gegen Abend näherten sich mehrere amerikanische Fahrzeuge, die sich offenbar verfahren hatten, auch Ebersbach. Sie wurden vor einer Panzersperre in Höhe der Firma Heinrich Geiger beschossen. Dabei wurden einige Fahrzeuge zerstört, die restlichen drehten ab. Bei diesem Vorfall kamen zwei amerikanische Soldaten ums Leben, weitere wurden gefangengenommen.
Das Ereignis erhöhte die Gefahr eines amerikanischen Militärschlags, den Bürgermeister Gustav Seebich unbedingt verhindern wollte. Doch konnte er Ebersbach nicht so ohne weiteres kampflos dem Feind übergeben, da sich noch deutsche Soldaten im Ort befanden und eine vom Remstal über den Schurwald kommende drei Divisionen starke deutsche Heeresgruppe im Anmarsch war, die durch den Ort in Richtung Schwäbische Alb geschleust werden sollte. In Verhandlungen mit einem Vorkommando dieser Heeresgruppe drängte Seebich auf eine Änderung des Marschbefehls und hatte insofern Erfolg, als die Marschroute aufgrund der durch den schnellen Vorstoß der Amerikaner veränderten militärischen Situation und der erfolgten Feindberührung an der Ebersbacher Panzersperre tatsächlich weiter nach Westen verlegt wurde.
Nachdem sich um 22 Uhr die deutschen Soldaten aus Ebersbach zurückgezogen hatten, schickte Seebich in der Nacht vom 20. auf den 21. April den französischen Lagerpfarrer Alexis Boscherie als Parlamentär mit einem Bericht über die gegenwärtige Lage und dem Angebot einer kampflosen Übergabe von Ebersbach zu den amerikanischen Vorposten am Nassachbach. Als in der Frühe des 21. April dann doch wieder Einheiten der besagten Heeresgruppe in Ebersbach einzogen und diese den östlichen Ortsausgang zum Flankenschutz mit Truppen sicherten, sandte Seebich den mit ihm befreundeten polyglotten Weltenbummler Hermann Kolb aus Ebersbach am hellichten Tage mit dem Fahrrad und einer Armbinde des Roten Kreuzes versehen wiederum zu den amerikanischen Vorposten am Nassachbach, um diese über die veränderten Gegebenheiten zu unterrichten und sie zu bitten, die Besetzung bis zum Abend des nächsten Tages aufzuschieben.
Tatsächlich verließ die letzte Sicherungskompanie der deutschen Wehrmacht Ebersbach bereits am Abend des 21. April, so daß die kampflose Übernahme des Ortes durch die Amerikaner schon am darauffolgenden Vormittag erfolgen konnte. Das Rathaus wurde besetzt, Führerbilder zum Fenster hinausgeworfen, und die Einwohnerschaft dazu aufgefordert, sämtliche Waffen abzuliefern. Als ab 12 Uhr – hauptsächlich durch die schlechter behandelten Ostarbeiter – Plünderungen einsetzten, wurde unter der Leitung von Fabrikant Rolf Kauffmann, bis zum Einmarsch der Amerikaner örtlicher Führer des Volkssturms, ein bewaffneter Sicherheitsdienst aus französischen Kriegsgefangenen, holländischen und belgischen Fremdarbeitern sowie deutschen Zivilisten aufgestellt. Patrouillen durch den Ort und die Bewachung der Russenbaracken bei Nacht sorgten für die rasche Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Mit einer gewissen Genugtuung dürften die der Sicherheitswehr angehörenden kriegsgefangenen Franzosen in der Folgezeit auch ehemalige stramme Nationalsozialisten bewacht haben, die ab sofort zu gemeinnützigen Arbeiten – unter anderem auch dem Entfernen des Stacheldrahts um die Kriegsgefangenenlager herum – herangezogen wurden.
Am 9. Mai 1945 verließen die französischen Kriegsgefangenen Ebersbach. Der Name Alexis Boscherie und sein sowie seiner Kameraden Beitrag zu einem weitgehend kampflosen Kriegsende ohne größere Zerstörungen und Plünderungen in Ebersbach gerieten allmählich in Vergessenheit. Dieser Artikel will die Erinnerung an die französischen Helfer von Bürgermeister Gustav Seebich wieder auffrischen und ihre Hilfe aus gegebenem Anlaß – dem Kriegsende vor 60 Jahren – gebührend würdigen.
Dr. Eberhard Haußmann (+)
Allgemeine Literatur:
Eikel, Markus: Französische Katholiken im Dritten Reich. Die religiöse Betreuung der französischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter 1940-1945. Freiburg im Breisgau 1999